Jahrgang 57
Nr. 6/2003 Dezember
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DIE NEUE ORDNUNG | ||||
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Elisabeth Schulte / Bernd Kettern
Soziale Dienstleister unter Druck Leere Kassen bei Bund, Ländern und Gemeinden, bei Sozialversicherungen und Landschaftsverbänden führen zu Handlungsdruck bei Bildungs- und Behinder-teneinrichtungen wie auch Krankenhäusern, von denen sich viele in kirchlicher Trägerschaft befinden. Viele sind bereit, sich den finanziellen Notwendigkeiten anzupassen. Doch wie, wenn die Konsequenzen bei der öffentlichen Hand, den Sozialversicherungsträgern oder auch Tarifparteien mehr diskutiert als umgesetzt und wenn umgesetzt, dann aber nach kurzer Zeit wieder verändert werden, so daß eine kalkulierbare Planungsgrundlage gar nicht gegeben ist? Die Sozialen Dienstleister haben eines gemeinsam mit der Bauwirtschaft: Beide ansonsten sehr unterschiedlichen Branchen hängen von der Refinanzierung bzw. den Aufträgen der öffentlichen Hand wesentlich oder sogar vollständig ab und somit von politischen Schwerpunktbildungen, politischen Änderungen und vor allem auch der Haushaltslage der öffentlichen Hand. Kaum eine Branche macht solche Schwankungen mit wie der Bau und die Sozialen Dienstleistungen, weil aus rein politischen Erwägungen heraus in manchen Zeiten der Bau (Bau-förderung, öffentliche Bauten) oder die Sozialen Dienstleistungen (z. B. Arbeits-losenprogramme) hochgefahren werden, dann aber zu teuer werden und wieder heruntergefahren werden müssen. Neben dem politischen Kalkül oft im Zusammenhang mit Wahlen spielt bei dem verwirrenden Hin und Her der Förderungs-Ausweitungen und -Reduzierungen eine große Rolle, daß die Prognosen der Bundesregierung mehr von poli-tischem Wunschdenken als von Realitätssinn geprägt sind. Erhofftes Wirt-schaftswachstum fernab aller Prognosen von unabhängigen Wissenschaftlern führt in der Planung zu geringerer Arbeitslosigkeit und diese zu geringeren Aus-gaben der Bundesanstalt für Arbeit usw.: Ist nur eine entscheidende Kennziffer zu hoch, so zieht sich der Fehler durch alle Gebiete und führt zu völlig falschen Einschätzungen der Haushaltslage. Kein Wunder, wenn in den letzten Monaten fast wöchentlich neue Hiobsbotschaften der öffentlichen Kassenlage veröffent-licht werden müssen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier die Ausgaben völlig aus dem Ruder laufen. Das zwingt die Verantwortlichen zum Handeln, was unter Zeitdruck nicht immer durchdacht geschieht. Blinder Aktionismus hilft nicht, die Probleme an der Wur-zel zu packen. Hilfreich wäre eine Politik, die nicht nur Flickschusterei an der ein oder anderen brennenden Stelle betreibt, sondern langfristige Strategien auf-zeigt, sinnvolle Übergangszeiten für die Reformumsetzung einräumt und Struk-turen insgesamt als einheitliches Konzept ändert. Die Politik muß sich zu der desaströsen Lage bekennen, damit jeder weiß, daß Einschnitte unausweichlich sind. Und dann müssen das Ziel und der Weg dorthin aufgezeigt und konsequent, d.h. verläßlich angegangen werden. Derzeit ist aber nur eines verläßlich: Was heute gesagt wird, gilt morgen nicht mehr. So kann kein Vertrauen entstehen aber ohne gegenseitiges Vertrauen funktioniert Wirtschaft nicht. Heute sind die Rahmenbedingungen für die Sozialen Dienstleister vorrangig ökonomisch geprägt. Die Sozialen Dienstleister verhalten sich entsprechend: Behinderteneinrichtungen, Bildungseinrichtungen und Krankenhäuser müssen sich dem Wettbewerb und leeren Kassen stellen und somit ihren sozialen Auftrag betriebswirtschaftlich durchführen. Nur so können auch für die Zukunft die sozialen Leistungen gesichert werden. Für diese Arbeit benötigen sie aber wie alle privatwirtschaftlichen Unternehmen Vertrauen in die Rahmenbedingungen und einen echten Markt statt Regulierungen und einengende Vorschriften des Handlungsspielraumes durch die öffentlichen Refinanziers. I. Bildungseinrichtungen in Hartz-Turbulenzen Hartz-Reformen sind in die Gesetzgebung gekommen: Teil I und II wurden we-nige Tage vor Weihnachten 2002 verabschiedet und traten sozusagen über Nacht bzw. „über Weihnachten“ ab 1.1.2003 in Kraft. Diese Vorgehensweise wiederholt sich wohl dieses Jahr: Nachdem die Gesetzentwürfe in die Vermittlungsausschüsse verwiesen wurden, werden sie voraussichtlich am 19. Dezember 2003 verabschiedet, um ab 1.1.2004 in Kraft zu treten. Hehre Ziele, die eine Hartz-Kommission einst formulierte und die auch vom Grundsatz und der Notwendigkeit her auf viel Verständnis bei den Betroffenen stießen, sind inzwischen völlig verwässert worden. Der Ideengeber Hartz erkennt seine Pläne bei der Umsetzung nun bekanntlich selbst nicht mehr wieder. Bundesregierung und Bundesanstalt für Arbeit werden aber auch Anfang kommenden Jahres wieder überrascht sein, daß ihre neuen Gesetze nicht vom ersten Monat an greifen und die Arbeitslosigkeit weiter steigt. So wurde beispielsweise im Zuge der Hartz-Reformen betont, die Weiterbildungsmaßnahmen dürften nicht mehr allen Arbeitslosen nach dem Zufallsprinzip angeboten werden, denn es entstünden ganze „Weiterbildungskarrieren“, bei denen ein Arbeitsloser von einer Maßnahme in die nächste komme nur nicht an richtige Arbeit. Daher sollen nun die Fortbildungsangebote klar in den 1. Ar-beitsmarkt einmünden, was mit einer Zielvorgabe von 70 Prozent für die Bildungseinrichtungen unterstrichen wurde. So weit, so gut. Das Problem steckt bekanntlich im Detail. Weiterbildungsmaßnahmen für Akademiker können gut angeboten werden, weil die Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt zu 70 Prozent in diesem Bereich durchaus üblich ist. Aber wie sieht es bei Ungelernten ohne Ausbildung aus, bei Langzeitarbeitslosen mit Handicaps wie Krankheit oder auch höherem Alter? Hier ist ein Unterbringen in der Wirtschaft viel schwieriger. Es wurde aber nicht differenziert nach Art der Arbeitslosen, sondern ein einheitliches Ziel von 70 Prozent vorgegeben. Nunmehr sollen bei Ausschreibungen von Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen 75 Prozent landesweit ausgeschrieben werden. Das führt dazu, daß große Träger auch an Standorten mitbieten werden, wo sie bisher gar kein Büro hatten, und aufgrund ihrer Größe auch zu Preisen, mit denen sie womöglich den Zuschlag erhalten. Unter Spargesichtspunkten der Bundesanstalt für Arbeit ist dies zunächst verständlich. Hinsichtlich der zu Recht geforderten Vermittlung der Maßnahmeabsolventen in den ersten Arbeitsmarkt drängt sich allerdings die Frage auf, wie ein landesweiter Bildungsträger ohne Niederlassung vor Ort die Betriebe so gut kennen kann, daß er die Einmündung in die Arbeit gewährleisten kann. Wenn also Preis vor Qualität geht, dann wird dies dazu führen, daß die vielen mittelständischen Bildungseinrichtungen vor Ort, die über gewachsene Kontakte zu den Betrieben verfügen, vom Markt gedrängt werden. Schon im Laufe des Jahres 2003 nahmen die Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen der Arbeitsämter um 30 bis 40 Prozent ab mit entsprechenden Folgen für die Beschäftigungssituation bei den Bildungseinrichtungen, sprich Entlassungen und Insolvenzen. Aber auch Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit, die beispielsweise im Jugendbe-reich vom Land bzw. der EU gefördert werden, sind von den Umstrukturierun-gen betroffen. Eine Prüfung auf Effizienz ist durchaus begrüßenswert, und einem stärkeren Wettbewerb zwischen den Bildungseinrichtungen stellen sich die Unternehmen und Verbände auch. Aber der Wettbewerb muß fair sein und die neuen Richtlinien müssen verläßlich und planbar sein. Wenn Gelder für einen bestimmten Zeitpunkt bewilligt werden und dann nicht fließen, weil das Land plötzlich festgestellt hat, daß es nicht genug liquide Mittel bereitgestellt hat, oder wenn bei bereits bewilligten bzw. bereits kalkulierten Maßnahmen im nachhinein der Verwaltungsaufwand durch intensive Beleg-Vorschriften drastisch heraufgesetzt wird, ohne die Fördermittel entsprechend aufzustocken, oder wenn Arbeitsämter bei Bildungseinrichtungen Vorbereitungen sehenden Auges und aktiv zustimmend laufen lassen was durchaus dort schon Kosten verursacht , und dann die Maßnahme in letzter Minute stoppen, dann bringt das naturgemäß ein Unternehmen ins Schleudern, auch wenn es noch so flexibel ist. Auch Maßnahmen, die früher jährlich im 12-Monats-Rhythmus nahtlos nacheinander liefen und jetzt mit einem Monat Unterbrechung erst verspätet anlaufen, schonen zwar zunächst die Kasse der Arbeitsämter, führen aber dazu, daß die Bildungseinrichtungen ihre Mitarbeiter den einen Monat Pause zwischen zwei Maßnahmen entlassen, was wiederum der Bundesanstalt für Arbeit Kosten verursacht, zumal sie Kurzarbeit bei Bildungseinrichtungen nicht unbedingt genehmigt. Während einerseits in der Gesellschaft die fehlenden Sozialkompetenzen so mancher Jugendlicher beklagt werden und Jugendarbeitslosigkeit häufig zu Dauerarbeitslosigkeit wird und somit auch zu sozialem Brennstoff, bis hin, daß eine erhöhte Gefahr einer Kriminalisierung entsteht, werden ausgerechnet die sozialpädagogischen Begleitmaßnahmen gekürzt. Aber gerade für den Aufbau der Sozialkompetenzen eines Jugendlichen benötigt man Zeit, und nur auf dieser Grundlage greifen auch die fachlichen Maßnahmen. Ein Sparen hier ist wieder zu kurz gesehen, denn wenn hinterher die fachliche Maßnahme umsonst ist und der Jugendliche scheitert, dann kostet er sein Leben lang die Gesellschaft weit mehr als die sozialpädagogische Begleitung in seiner Jugend. Der Haushalt des Landes NRW sieht kräftige Einsparungen vor, die insgesamt auch mit Blick auf die bereits enorme Verschuldung erforderlich sein mögen. Auffallend sind aber starke Kürzungen insbesondere bei der Jugendhilfe, Famili-enberatung und Bürgerschaftlichem Engagement, wobei bei letzterem sogar auf neue Projekte völlig verzichtet werden soll. Gerade die Jugend, Familien und Bürger sind aber die Säulen und Zukunft der Gesellschaft. Die Bundesanstalt für Arbeit wie auch Landesministerien raten den betroffenen Einrichtungen, sich vor dem Hintergrund der anstehenden drastischen Mittelkür-zungen zusammenzuschließen und Synergieeffekte zu nutzen. Das ist sicherlich manchmal ein möglicher Ausweg für einzelne, zerschlägt aber die Trägervielfalt und führt eventuell zu Kartellbildungen, die dem Wettbewerbsgedanken wider-sprechen. Auch die vom Land NRW geplante Erhöhung der Eigenleistung freier und damit vor allem kirchlicher Schulträger für die laufenden Personal- und Sachkosten um 25 Prozent in einem Schritt ab 2005 wird die Kirchen zur Schließung ihrer Schulen treiben. Das würde nicht nur eine Verschiebung des Unterrichts und der da-mit verbundenen Kosten auf das Land bedeuten, sondern obendrein eine Qualitätsminderung, da die Schulen in kirchlicher Trägerschaft einen allgemein unum-stritten höheren Qualitätsstandard haben als die Schulen öffentlicher Träger. Eine solche Politik kann den Steuerzahler, der dann auch noch den Eigenanteil der Kirchen mitfinanzieren müßte, vor dem Hintergrund des Sparens nicht überzeu-gen, und nach PISA schon gar nicht. II. Behinderteneinrichtungen im Strudel der Refinanzierung In der Öffentlichkeit meist weniger bekannt sind die Umstrukturierungen bei den Behinderteneinrichtungen, die seit Mitte der 90er Jahre bei ihren Personalkosten nicht mehr nach dem Bundesangestellten-Tarifvertrag (BAT) oder deren Modifi-kationen bei Wohlfahrtsverbänden und Kirchen (AVR) refinanziert werden, sondern mit Pflegesätzen, die sich weder in Höhe noch Laufzeit an den Entgelt-erhöhungen des öffentlichen Dienstes orientieren. Demnächst wird hier ein Behinderter je nach Schwere seiner Behinderung ein persönliches Budget bekommen, mit dem dann auch die Personalkosten zu bestreiten sind. Die Praxis zeigt auch in diesem Bereich, daß vor lauter Sparwillen der Geldgeber einen Verschiebebahnhof in Gang gesetzt hat, unter dem letztlich nicht nur die Behinderten leiden, sondern auch der Steuerzahler, weil die Lösung insgesamt teurer wird. So versucht beispielsweise derzeit der Landschaftsverband in einigen Fällen, die Behinderten zu selbständigem Wohnen zu bewegen mit der offiziellen Begründung, dies sei menschengerechter als das Wohnen in den Behindertenwohnstätten. Sofern ein Behinderter dazu in der Lage ist, wird dies schon länger praktiziert und ist sicherlich auch gut so. Kritisch wird dies, wenn es darum geht, die Kosten in den Wohnstätten durch diese Maßnahme zu senken und daher möglichst viele Behinderte in das freie Wohnen zu entlassen, wo sie nur noch beispielsweise zwei Stunden die Woche ambulante Unterstützung erhalten. Die Kosten für die Unterbringung (Ein- oder Zweibettzimmer im Heim) werden zwar für den Landschaftsverband gespart, dem Kreis oder der Kommune aber angelastet, der dem Behinderten nicht nur ein Zimmer, sondern eine ganze Wohnung finanzieren muß. Unter dem Strich wird es also sogar teurer. Vor allem aber leidet ein geistig und körperlich Behinderter darunter, der in seiner eigenen Wohnung schnell vereinsamt und auch überfordert ist. Ferner leiden die Wohnstätten darunter, die auch menschlich davon leben, nicht nur Schwerstbehinderte zu betreuen, sondern eine Mischung aus leichteren und schwereren Fällen. Ein weiteres Beispiel aus dem Bereich der Behindertenhilfe macht das akute Problem deutlich: Im Dezember 2002 befanden sich ca. 170 Mio. EUR im Vermögen des Ausgleichsfonds, der aus der Behindertenausgleichsabgabe der Unternehmen gespeist wird. An laufenden Einnahmen aus der Ausgleichsabgabe rechnete man für 2002 mit ca. 267 Mio. EUR, für 2003 mit ca. 270 Mio. EUR. Dem standen Ausgaben in Höhe von ca. 260 - 276 Mio. EUR entgegen ohne die Ausgaben für die Förderung der Behindertenwerkstätten. Damit war klar, daß investive Förderung der Werkstätten zukünftig nicht mehr möglich sind. Die Bundesanstalt für Arbeit blockierte indessen 149 Werkstattprojekte, die koordi-niert waren, ein einziges erhielt für 30 Plätze auch die zugesagten Mittel. Das Volumen der Bundesanstalt für Arbeit betrug insgesamt 38,5 Mio. EUR, dadurch wurden 385,3 Mio. EUR blockiert, die bereitgestellt waren von öffentlichen Haushalten und Trägern. Ohne die Mittelbereitstellung der Bundesanstalt für Arbeit darf nach der Ausgleichsverordnung zur Zeit kein Projekt angegangen werden. Konkret bedeutet dies, daß 350 Mio. EUR nicht ihrem geplanten Zweck zugeführt werden konnten. Hierbei handelt es sich nur um langjährig koordinierte Projekte, die alle ein aufwendiges Bewilligungsgeschehen hinter sich hatten. Ähnliche Fälle gibt es viele. Die öffentliche Hand hält ihre Termine für Entscheidungen z. B. über den Neubau eines Behindertenheimes nicht ein, Gelder werden gesperrt, obwohl bereits wegen mündlicher Zusagen Kosten für Architekten, Kostenvoranschlag usw. angefallen sind. Inzwischen springen private Stiftungen ein, wo vorher noch aus Steuergeldern diese gesellschaftlich wichtigen Investitionen getätigt wurden. Das Dilemma besteht häufig auch darin, die Qualität verbessern zu wollen, ohne die damit verbundenen Kosten decken zu können. Beispiel Frühförderung: Was hilft der neue Gesetzestext (SGB IX), der die pädagogische Arbeit in der Früh-förderung aufwertet, indem eine engere Verzahnung zwischen medizinischer Rehabilitation und heilpädagogischer Leistung (Frühförderung) verlangt wird, d. h. Ärzte und Frühförderung ihre Arbeit gegenseitig abstimmen müssen und im Sinne einer Komplexleistung erbringen, dann aber in Anbetracht leerer kommu-naler Kassen eventuell die Kosten für die Ärzte aus dem Budget der Frühförderung finanziert werden und letztere entsprechend weniger erhält? Ob die ebenfalls finanziell angeschlagenen Krankenkassen diese Zusatzkosten auf sich neh-men, sei dahingestellt. Auch generelle Einsparungen treffen die Behinderten: So werden 50 Prozent der Kosten für Zivildienstleistende nicht mehr vom Bundesamt für Zivildienst finanziert, immer weniger Zivildienstleistende werden überhaupt eingestellt und stehen den Einrichtungen zur Verfügung. Die Landesmittel für Betreuungsvereine in NRW wurden zum 31.12.2002 abrupt eingestellt. Rund 100 Stellen in NRW waren davon betroffen. III. Krankenhäuser im Dauer-Reformprozeß Die Gesundheitsreformen mit ihren Auswirkungen auf die Krankenhäuser sind hinlänglich bekannt: Bettenabbau, Fusionen von Kliniken und Abrechnung nach Fallpauschalen sind in den Medien ausführlich beschrieben worden. Der Hintergrund: Gesundheitsreformen haben seit Anfang der 90er Jahre eine Kostendeckelung eingeführt. Seit 2000 sind die Pflegesätze praktisch konstant geblieben, die Kosten, insbesondere Personalkosten aber kräftig angestiegen. Die Notwendigkeit angesichts dramatisch steigender Beitragssätze liegt ebenfalls auf der Hand. Das Problem liegt auch hier darin, daß es nicht eine durchdachte, gut vorbereitete grundlegende Strategie der Umstrukturierungen gibt, auf die sich die Kliniken und alle Betroffenen zuverlässig einstellen können, sondern daß eine Reform die nächste ablöst, die jeweils unter Zeitdruck entstehen und entsprechend unausgereift sind. So wurde beispielsweise für die Abrechung der Krankenhäuser mit den Krankenkassen im Prinzip das Verrechnungssystem aus Australien in Deutschland 2003/2004 eingeführt, das für bestimmte Operationen eine bestimmte Pauschale vorsieht. Bei diesen Fallpauschalen erhält eine Klinik z. B. für eine Blinddarm-operation x EURO. Wieviel davon betriebsintern für das Zimmer, die Verpflegung, das Personal oder die eigentliche Behandlung durch den Arzt inklusive der medizinischen Instrumente gebraucht wird, ist dem einzelnen Krankenhaus überlassen: Es muß mit der Fallpauschale auskommen. Dies ist eine Lösung, wenn sie differenziert genug gestaltet wird. Eine Differenzierung ist aber in Deutschland nicht vorgesehen: Liegt ein Patient wegen eines Beinbruchs im Krankenhaus und bekommt dort dann noch einen Herzinfarkt, so kann die Klinik nur entweder den Beinbruch oder den Herzinfarkt mit der Krankenkasse abrechnen sie wird den „teureren“ Herzinfarkt abrechnen und muß die Behandlung des Beinbruchs selbst finanzieren. Auch hier wird wieder deutlich, daß die Reform mit heißer Nadel gestrickt wird: So gibt es mehrere Krankheitsfälle, für die eine Pauschale schlichtweg vergessen wurde, beispielsweise bei Rheumabehandlungen, weil es Rheuma im australischen Klima gar nicht gibt. Hinzu kommt noch das Urteil auf EU-Ebene, wonach Bereitschaftsdienst normale Arbeitszeit ist. Je nach konkretem Fall bringt dies nicht nur hohe zusätzliche Kosten für die Krankenhäuser, sondern auch das Problem mit sich, gar nicht genug Ärzte zu finden, weil diese in Deutschland rar sind. IV. Tarifparteien unter Handlungsdruck Über allen Reformen stehen als Leitsatz die leeren Kassen und der damit ver-bundene Druck, Kosten zu sparen. In allen Bereichen bestehen aber mehr als 70 Prozent der Kosten aus Personalkosten. Insofern muß auch hier der Rotstift angesetzt werden, daran kommt keiner vorbei, auch wenn noch so sehr bei den insgesamt geringen Sachkosten gespart wird. Vor dem Hintergrund, daß früher die Kosten, insbesondere die Personalkosten, eins zu eins refinanziert wurden, hat man sich darum lange nicht gekümmert und häufig die Einzelarbeitsverträge an den BAT angelehnt, auch wenn keine direkte Tarifbindung bestand. Heute klafft die Schere zwischen BAT (das gleiche gilt für AVR, AWO-Tarifvertrag usw.) und Refinanzierung immer stärker auseinander. Beispielsweise stiegen seit 1998 die Tarifentgelte nach BAT um 5,4 Pro-zentpunkte stärker als die Pflegesätze im Personalkostenbereich für Behinderten-einrichtungen im Rheinland. Manche Bereiche haben seit Jahren überhaupt keine Steigerungen bei der Refinanzierung bekommen. Schließungen und Insolvenzen sind die Folge. Andere Bereiche wurden nur schwach angehoben, auf jeden Fall deutlich unterhalb der Tariferhöhungen im BAT. Die Folge: Die Einrichtungen und Kliniken leben von ihrer Substanz, auf Kosten ihres Vermögens, sofern überhaupt vorhanden, und vor allem auf Kosten der Rückstellungen für Ersatzinvestitionen. Es dürfte einleuchten, daß dies auf Dauer nicht geht. Neben den jährlichen Tariferhöhungen der Entgelte nach BAT liegt ein besonde-res Problem in der Struktur des BAT: Altersstufen oder Bezahlung nach Kinder-zahl sind rein soziale Komponenten, die mit der Leistungsfähigkeit eines Mitar-beiters oder eines Unternehmens nichts zu tun haben. Mütter mehrerer Kinder über vierzig Jahre haben praktisch keine Chance, eine Stelle zu finden, weil sie laut BAT viel zu teuer, also nicht finanzierbar sind, obwohl sie aber sehr gute Mitarbeiterinnen wären und durchaus bereit, für weniger Geld als nach BAT zu arbeiten. Junge Mitarbeiter, die sich stark engagieren, aber noch keine Kinder haben, werden nach BAT eher unterbezahlt und können für besondere Leistung nicht belohnt werden. Zudem kann eigentlich niemand ernsthaft behaupten, alle 2.800 Seiten dieses Tarifwerkes wirklich zu kennen, was zu einem erheblichen Zeitaufwand führt, um wenigstens das Wichtigste tarifgerecht auszuführen. Vor diesem Hintergrund diskutiert die Gewerkschaft ver.di selbst ihren BAT inzwischen kritisch. Als Tarif für den öffentlichen Dienst entwickelt und über viele Jahrzehnte immer nur ergänzt, wird er den Anforderungen unserer Zeit und erst recht der im Wettbewerb stehenden Bildungs-, Behinderteneinrichtungen und Krankenhäuser nicht mehr gerecht. Die Gewerkschaft ver.di hat in ihrem 100-Punkte-Programm eine grundsätzliche Diskussion des BAT angestoßen und bei dem Tarifabschluß im Januar 2003 eine Prozeßvereinbarung abgeschlossen, der zufolge bis zum 31.1.2005 der BAT prinzipiell reformiert werden soll. Der Unternehmerverband Soziale Dienstleistungen+Bildung e.V. (USB) begrüßt diese Selbsterkenntnis, sieht aber zugleich das Problem des BAT als so gravie-rend an, daß er nicht nur reformiert, sondern daß ein neuer, den Sozialen Dienstleistern angemessener Tarifvertrag ausgehandelt werden sollte, der transparent, überschaubar, praktikabel und wettbewerbsfähig sein soll. Aus Erfahrung ist der USB der Überzeugung, daß der Termin 31.1.2005 entweder nicht ein-gehalten wird, weil die Reformierung des BAT eher ein Jahrtausendwerk ist, oder aber der neue BAT kaum von dem alten abweicht, womit nichts gewonnen wäre. Da der Handlungsdruck für die Branche enorm ist, müssen schnellstens Lösun-gen gefunden werden. Verhandlungen wie im Falle der AWO oder Krankenhäu-ser mit ver.di, die sich über Jahre hinwegziehen, um irgendwann ein eher unbe-friedigendes Ergebnis zu erlangen, dauern viel zu lange. Der USB schließt mit ver.di Haustarifverträge ab, die einen innovativen Weg über wettbewerbsfähige Entgelttabellen und Aufhebung der Sozialzuschläge sowie flexible Arbeitszeiten einschlagen. Darüber hinaus werden Lösungen über Betriebsvereinbarungen oder Ausgliederungen gefunden. Das Wasser sucht sich immer einen Weg, wenn der Druck zu groß wird, die Frage ist nur, ob die Ge-werkschaft mitgeht oder sich zurückhält und außen vor bleibt. Obwohl die Sozialzuschläge inzwischen selbst von ver.di-Mitarbeitern in Frage gestellt werden, beharrt die Gewerkschaft beispielsweise bei den Reformtarif-verhandlungen für die AWO doch auf einem Sozialzuschlag für Kinder. Hier fragt sich, warum ein Arbeitgeber für die gleiche Leistung einer Mutter mit Kindern mehr zahlen soll als einer Frau ohne Kinder. Die Konsequenz wird eher sein, daß der Arbeitgeber möglichst nur Frauen ohne Kinder einstellt, denn ansonsten würde er finanziell bestraft. Daß Kinder notwendig für die Gesellschaft sind, bleibt unbestritten, aber für diese soziale Aufgabe ist der Steuerzahler da, d. h. zwar insofern auch der Arbeitgeber, aber ebenso der Arbeitnehmer. Viele Gewerkschaftsvertreter haben längst die Zeichen der Zeit erkannt und sehen den eigenen Reformbedarf. Gegen die Argumente, die gegen die Struktu-ren des BAT sprechen, gibt es auch inzwischen keine Sachargumente mehr. Das, was einige Ideologen aber immer noch vortragen, ist die „Besitzstandswahrung“. Und die wird von einigen (wenigen) so hochgehalten, daß dies wichtiger ist als Entlassungen zu vermeiden nach dem Motto: „Wer als Unternehmen die BAT-Hürde nicht zahlen kann, geht eben in Konkurs.“ Die internen Auseinandersetzungen innerhalb ver.dis sind heftig. Dies zeigte nicht zuletzt auch der Bundeskongreß im Oktober diesen Jahres in Berlin. Ein Vorstandsmitglied, das den Handlungsdruck bei den Unternehmen realistisch sah und sich für wirkliche Reformen einsetzte, zudem auch noch bei den eigenen Angestellten, wurde nicht wiedergewählt. Aufgrund des hohen Defizits der eige-nen Gewerkschaft (ca. 60 Mio. €), die mit Mitgliederschwund seit 2001 rund 250.000 Mitglieder weniger und Mitarbeiterüberhang (doppelt so viele wie die IG Metall mit ähnlicher Mitgliederzahl) aufgrund der Fusion der Einzelgewerkschaften (ÖTV, DAG, IG Medien, Postgewerkschaft und HBV) zu ver.di kämpft, hatte das Vorstandsmitglied vorgeschlagen, für die eigenen Mitarbeiter alternativ das Weihnachtsgeld zu streichen und die Gehälter um 10 Prozent zu kürzen. Die Quittung für seinen mutigen Realitätssinn erhielt es mit seiner Abwahl aus dem ver.di-Vorstand. Die Notwendigkeit blieb natürlich dennoch bestehen. Nur zwei Wochen später, Anfang November, kündigte ver.di für die eigenen Mitarbeiter eine Reduzierung der Monatsgehälter um bis zu 5 Prozent für die nächsten dreieinhalb Jahre an je nachdem, wieweit von dem Angebot einer Teilzeitbeschäftigung Gebrauch ge-macht werde. Dieses Angebot besteht darin, daß die ver.di-Mitarbeiter bei 50 Prozent ihrer Arbeitszeit immerhin 80 Prozent ihres Gehalts beziehen. Damit will ver.di bis 2007 (trotz Kündigungsschutz bis 2008) einen ausgeglichenen Haushalt erreichen. In der Regel verweigern die Gewerkschaften auch jedes Nachdenken über eine Arbeitszeitverlängerung, obwohl diese ohne Lohnausgleich die Produktivität erhöhen würde und somit die Kosten senken könnte, ohne daß der einzelne we-niger verdient. Zwar müßten zunächst freiwerdende Arbeitsplätze unbesetzt bleiben, weil die anderen länger arbeiten, doch würde im Laufe der Zeit die Kostenreduktion sogar Neueinstellungen ermöglichen, denn Arbeit gibt es in der Regel genug, nur nicht bezahlbare Arbeit. Eine Erhöhung der Arbeitszeit von beispielsweise 38,5 Stunden pro Woche auf 40 Stunden wäre auch nicht gesundheitsschädigend, wie gerne behauptet wird: allein seit 1970 arbeiten heute die Deutschen im Durchschnitt 500 Stunden oder auf Basis eines 8-Stunden-Tages 64 Tage weniger pro Jahr. Hier und da läßt sich doch die Arbeitszeit auch mit einer Gewerkschaft erhöhen, allerdings nicht mit ver.di. Ein umstrittenes Thema bleibt auch das Weihnachtsgeld. Die Arbeitgeber for-dern immer wieder, einen Teil nur festzuschreiben und einen anderen Teil vom Ergebnis des Unternehmens abhängig zu machen. Der Vorteil läge insbesondere darin, daß in schlechten Zeiten ein automatischer Spielraum der Personalkosten-ersparnis vorhanden wäre und nicht immer neu um einen Verzicht Jahr für Jahr gerungen werden muß. Umgekehrt partizipierten genauso automatisch die Mitar-beiter an erfolgreichen Jahren. Immerhin sind laut einer Forsa-Umfrage vom Oktober 2003 doch 67 Prozent der Deutschen bereit, auf Weihnachtsgeld zu verzichten, um Arbeitsplätze im eigenen Unternehmen zu retten. Dieser Lösungsansatz wird in der Praxis auch durchaus eingesetzt: 15 Prozent der Arbeitnehmer müssen Einbußen beim Weihnachtsgeld dieses Jahr hinnehmen, weitere 6 Prozent erhalten erstmalig gar kein Weihnachtsgeld. Auch die Bundesländer und der Bund nutzen die Einsparmöglichkeiten dieser Jahressonderzahlung: Viele reduzieren das Weihnachts- und Urlaubsgeld in diesem, spätestens im kommenden Jahr bei den Beamten. Bei dieser Entscheidung braucht allerdings die Gewerkschaft nicht gefragt zu werden. Daher konnten die Bundesländer jetzt auch die Arbeitszeit der Beamten auf 41 bis 42 Stunden pro Woche verlängern. Bei den Arbeitern und Angestellten des öffentlichen Dienstes wird es schwierig werden, solche Maßnahmen mit ver.di durchzusetzen. Vergütungsbestandteile in Abhängigkeit von der Leistung des einzelnen Mitarbeiters oder eines Teams werden ebenfalls immer öfter diskutiert. Hier bestehen große Ängste der Mitarbeiter hinsichtlich der Vergabekriterien, auch wenn diese gemeinsam mit dem Betriebsrat festgelegt werden. Bei leistungsabhängigen Vergütungsbestandteilen bestünde ein Anreiz, sich zu verbessern und zielgerichtet und bewußt zu arbeiten, wobei Leistung belohnt würde. Das interessante ist, daß sogar vor einer Selbsteinschätzung viele Mitarbeiter zurückschrecken. Häufig beurteilen sich erfahrungsgemäß Mitarbeiter untereinander durchaus korrekt und sich selber eher zu schlecht, so daß sie keine Angst vor einer Einschätzung des Vorgesetzten zu haben bräuchten. Schließlich ist eine Bezahlung nach BAT auch nicht unbedingt gerecht, denn warum erhält jemand bis zu 767 € im Monat mehr, nur weil er älter wird, aber vielleicht nur das gleiche oder gar weniger als ein Junger leistet? Die ideologische Standhaftigkeit, auf „Besitzständen“ zu beharren, beschert der Gewerkschaft ver.di natürlich mehr und mehr Probleme: Bundesländer steigen aus der Tarifgemeinschaft aus, Einrichtungen und Krankenhäuser gründen Teile aus und neue Bereiche werden gar nicht mehr in die Tarifbindung hineingeführt. Betriebsräte suchen mit der Geschäftsführung Lösungen ohne ver.di und finden sie auch. Die Kirchen bleiben von den Ideologien so mancher Gewerkschafter verschont, da sie den „Dritten Weg“ gehen. Allerdings geht bei ihnen die Kostenschere zwischen Entgelt und Refinanzierungssatz genauso auseinander, da sich die Arbeitsbedingungen und Entgelterhöhungen stets nach dem BAT richten und letztere höchstens einmal um einige Monate hinausgezögert werden wie 2003. Die Kirchen haben also ihre Unabhängigkeit von den Gewerkschaften nie richtig für eigene Arbeitsbedingungen genutzt und hängen insofern in den gleichen Grundproblemen wie die Träger der freien Wohlfahrtspflege. Solange noch Vermögen bei den Kirchen ist, wird dieses lieber aufgezehrt anstatt Entscheidungen zu treffen und umzusetzen, die altgewohnte Bahnen verlassen, aber die Probleme an der Wurzel packen würden. Dipl.-Volkswirtin Elisabeth Schulte ist Geschäftsführerin des Unternehmerverbandes Soziale Dienstleistungen + Bildung e.V. (USB) in der UnternehmerverbandsGruppe e.V. und Leiterin des Arbeitskreises Soziale Ordnung des Bundes Katholischer Unternehmer (BKU). Dr. Bernd Kettern ist Direktor des Caritasverbandes für die Region Trier e.V. und Mitglied des Arbeitskreises Soziale Ordnung des BKU. |
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