Jahrgang 61
Nr.1/2007 Februar
DIE NEUE ORDNUNG

Stephan Georg Schmidt


„Ich selbst und mein Schöpfer“

Impulse aus der englischsprachigen Newman-Forschung


Bildhafter hat vielleicht kaum jemand das Gottesbild der Moderne in Sprache gefaßt als James Joyce in seinem autobiographisch geprägten Roman Porträt des Künstlers als junger Mann aus dem Jahr 1916. Darin vergleicht er den kreativen Menschen mit dem Schöpfergott, der sich gleichgültig und gelangweilt aus dem einmal vollbrachten Werk seiner Hände heraushalte. Gleichsam „aus der Exis-tenz hinausraffiniert“, stehe dieser Künstler-Gott abseits und „manikürt sich die Fingernägel“.1 Die Vorstellung eines abwesenden Gottes, der die Welt sich selbst überläßt, ist geradezu ein Kennzeichen jener Epoche geworden, die sich Moder-ne nennt, und die mit zwei Weltkriegen und zwei totalitären Systemen reiche Belege zu bieten scheint für die Annahme, daß Gott entweder gar nicht existiere oder aber, falls es ihn doch gebe, sich um seine Schöpfung nicht kümmere.

Es ließe sich gewiß darüber streiten, ob eine solche Betrachtungsweise nicht vielleicht Ursache und Wirkung vertausche, ob nicht also die Leugnung Gottes oder sein „Hinausraffinieren“ aus der Schöpfung durch Naturwissenschaft, Psy-chologie, Kunst und Philosophie erst den Weg gebahnt habe zu den Gewaltex-zessen des vergangenen Jahrhunderts. Auf das auch in politischer Hinsicht ge-fährliche Glatteis einer solchen Debatte sollte man sich jedoch – auch als über-zeugter Christ übrigens – nicht ohne Not begeben, denn für die Annahme, daß die Welt, wie sie sich zeigt, es einem wach um sich blickenden Menschen bis-weilen schwermache, an einen allmächtigen und zugleich guten Schöpfergott zu glauben, gibt es Kronzeugen auch unter durch und durch christlichen Denkern, und zwar lange schon, bevor von Massenvernichtungswaffen und Konzentrati-onslagern die Rede war. Eine der in diesem Sinn zeitgenössisch anmutenden und zugleich prophetischen Gestalten ist der englische Konvertit und Kardinal John Henry Newman, dessen Leben nahezu das gesamte 19. Jahrhundert umspannt.

„Die Welt“, schreibt Newman in seiner Autobiographie Apologia pro Vita sua aus dem Jahr 1864, „scheint einfach die große Wahrheit Lügen zu strafen, von der mein ganzes Wesen erfüllt ist, und die Wirkung auf mich ist notwendig nicht weniger verwirrend, als wenn dieselbe Welt meine eigene Existenz leugnete. Wenn ich in einen Spiegel blickte und darin mein Gesicht nicht sähe, so hätte ich ungefähr dasselbe Gefühl, das mich jetzt überkommt, wenn ich die lebendige, geschäftige Welt betrachte und das Spiegelbild ihres Schöpfers nicht in ihr finde. [...] Wäre es nicht diese Stimme, die so deutlich in meinem Gewissen und in meinem Herzen spricht, ich würde bei der Betrachtung der Welt zum Atheisten, Pantheisten oder Polytheisten.“2

Damit greift Newman – ein halbes Jahrhundert vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dem darauf folgenden Zusammenbruch der bis dahin gültigen gesellschaftlichen und weltanschaulichen Systeme – geistig den Entwicklungen voraus, die sich dann im Verlauf des 20. Jahrhunderts tatsächlich zeigten. Ver-einfachend betrachtet, ließe sich zunächst vor allem eine Tendenz zum Atheis-mus unter Künstlern, Schriftstellern und Philosophen feststellen. Die beispiellose Grausamkeit und offenkundige Sinnlosigkeit des Sterbens auf den Schlachtfel-dern und in den Terrorlagern führte sie zur Leugnung Gottes. In den letzten Jahr-zehnten dagegen scheinen sich vor allem die beiden anderen von Newman ge-nannten Alternativen durchgesetzt zu haben. Atheismus in Reinform gilt derzeit als überholt, zumal gerade jene Ideologie, die sich mit wissenschaftlichem An-spruch auf ihn stützte, buchstäblich abgewirtschaftet hat. Die gleichsam gottlose Autonomie des Menschen erscheint angesichts einer immer komplexer, unbere-chenbarer und beliebiger sich zeigenden Welt als ein kaum haltbarer Standpunkt.

Man mag gleichwohl zeitkritisch fragen, wie lange das wohl so bleibt, wenn man sieht, wie die Fortschritte mancher wissenschaftlicher Disziplinen wie beispiels-weise der Hirnforschung zur Widerlegung des religiösen Glaubens in Stellung gebracht werden. Indes zeigen Umfragen in verschiedenen Ländern bisher, daß eine große Mehrheit durchaus an irgendeine transzendente Macht glaubt, wenn-gleich diese nur selten mit einem persönlichen Gott identifiziert wird. Wer oder was diese übernatürliche Instanz sein könnte, bleibt vielfach ungeklärt, doch unbesetzt bleibt diese geistige Leerstelle deswegen nicht, sondern der typische Eklektizismus der Postmoderne schafft sich hier seinen Ersatz nach dem soge-nannten Cafeteria-Prinzip. Unter Rückgriff auf vorchristliche und fernöstliche Gottes- und Heilsvorstellungen wird eine Mixtur aus allen möglichen religiösen und philosophischen Versatzstücken hergestellt, die man am ehesten bezeichnen könnte als Pantheismus – frei nach dem Motto: „Gott ist überall und nirgends“, was Arthur Schopenhauer „die vornehme Form des Atheismus“3 genannt hat – oder angesichts mancher esoterischen Entlehnungen aus dem Hinduismus oder aus dem altgermanischen Asenkult auch als regelrechten Polytheismus. Eine neuartige, diffuse Religiosität macht sich breit, doch ist die Situation im Grund-satz unverändert: Der Gott der christlichen Offenbarung, von dem der katholisch erzogene Joyce noch ausging, als er sein Porträt schrieb, bleibt im Abseits.

Newman – so könnte man mit einigem Recht behaupten – hat dies zu seiner Zeit nicht nur vorausgeahnt, sondern in gewisser Weise sogar selbst durchlitten. Er war sich der Gefahr durchaus bewußt, die die „Betrachtung der Welt“ für den eigenen Gottesglauben mit sich bringt und der heutzutage viele erliegen. Vor allem auch deswegen wohl versucht die neuere Newman-Forschung, insbesonde-re in englischsprachigen Ländern, den großen Intellektuellen des 19. Jahrhun-derts ins Gespräch zu bringen mit den gegenwärtigen philosophischen und (pseudo-)religiösen Ideen. Nach Ansicht von Terrence Merrigan (Katholische Universität Leuven, Belgien), einem der Wortführer dieser neuen Tendenz, las-sen sich aus Newmans Denken „wertvolle Lehren“ ziehen „für das Verständnis jenes verstörten Wesens, das wir als das moderne und/oder postmoderne Subjekt kennen“.4

Der Rekurs auf Newman beschränkt sich jedoch nicht auf eine bloße Beschrei-bung und Bestätigung der gegenwärtigen Zustände – schließlich bleibt auch Newman selbst nicht bei der „Betrachtung der Welt“ stehen, sondern erwähnt mit Nachdruck die „Stimme, die so deutlich in meinem Gewissen und meinem Her-zen spricht“ und die ihn angesichts des Weltgeschehens eben gerade nicht vom Glauben an den Schöpfergott abfallen läßt. Aus der Zusammenführung der Weltbetrachtung und der „inneren Stimme“ ergibt sich Newmans Relevanz für die Gegenwart. Wenn Newman die Grundprobleme der heutigen Situation gese-hen und sich zu eigen gemacht hat und wenn er diesen ein deutliches Bekenntnis zum Glauben an die Seite stellt, dann – so könnte man als These vielleicht for-mulieren – müßten sich Mittel und Wege finden lassen, sein Denken auch heute fruchtbar werden zu lassen.

Die Schwierigkeiten beginnen allerdings, sobald es darum geht zu bestimmen, was denn die „innere Stimme“ sei, von der Newman spricht. Deren Gleichset-zung mit der Stimme Gottes, die sich im Gewissen eines jeden einzelnen Men-schen zu Wort meldet, ist vielen Zeitgenossen ja nicht mehr ohne weiteres ein-gängig. Das Zweite Vatikanische Konzil hat das Gewissen definiert als „die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist.“5 Das deckt sich mit Newmans Standpunkt, der das Gewissen als ein „Echo der Stimme Gottes“ be-zeichnet.6 Anderswo wird er noch deutlicher: „Das Gewissen ist der ursprüngli-che Statthalter Christi, ein Prophet in seinen Mahnungen, ein Monarch in seiner Bestimmtheit, ein Priester in seinen Segnungen und Bannflüchen.“7 Mit dersel-ben Klarheit verurteilt er jene relativistische Vorstellung, wonach das Gewissen allenfalls „eine Art Sinn für das Schickliche [sei], eine Geschmackssache, die uns das eine oder das andere zu tun lehrt“.8

Auch die psychoanalytische Sicht, die das Gewissen auf Schuldgefühle und Komplexe („schlechtes Gewissen“) reduzieren will, ist seinem Denken fremd. Merrigan sieht in Newmans Gewissensbegriff regelrecht eine „dialektische Be-ziehung“ zwischen gutem und schlechtem Gewissen: „Während ersteres die Güte der göttlichen Vorsehung enthüllt und uns so vor der Verzweiflung bewahrt, die unser Streben nach dem Guten behindern würde, erschüttert letzteres durch die Bekanntgabe der gerechten Urteile Gottes, unsere Selbstgenügsamkeit und inspi-riert uns dazu, nach sittlicher Vollkommenheit zu streben.“9 Der Mensch erfährt die Äußerungen seines Gewissens nicht wie ein vom Über-Ich geknechtetes Wesen, sondern indem sich im Gewissen die Stimme Gottes äußert, entwickelt sich ein inneres Zwiegespräch zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer. Diese sind denn auch – nach einem häufig zitierten Satz aus Newmans Apologia – die beiden einzigen Wesen, „die absolut und von einleuchtender Selbstver-ständlichkeit sind: ich selbst und mein Schöpfer“.10 Und an anderer Stelle: „Das Gewissen lehrt uns ferner nicht nur, daß Gott ist, sondern auch was er ist. Es versieht den Geist mit einem wirklichen Bild von [Gott], als einem Medium der Anbetung.“11

Was nach Verinnerlichung aussehen mag, erweist sich bei näherer Betrachtung als Akt innerer und äußerer Freiheit. Das wird besonders deutlich, wenn man Newmans Gewissensbegriff absetzt gegen spätere Theorien, die sich ausdrück-lich von christlichen Vorstellungen abwenden. Den Unterschied zur Psychoana-lyse etwa weist Michael J. Buckley (Boston College, USA) unter anderem am Verhältnis zur persönlichen Freiheit auf: Während das Über-Ich mit (Kindheits-) Erfahrungen und Schuldgefühlen das Individuum zu konditionieren und zu de-terminieren suche, wende sich das Gewissen nach Newmans Vorstellung gerade „an die Freiheit, an einen Sinn für Selbstverantwortung oder Selbstbestimmung“; konfrontiert mit einer sittlichen Wahl, erfahre die menschliche Person auf radika-le Weise „ihre eigene Freiheit, ihre Verantwortung für das, was sie erwägt und wofür sie sich entscheidet – ja, geradezu die Verantwortung für ihr ganzes Le-ben.“12

Um so erstaunlicher, wenn heute dieser freiheitliche Aspekt von Newmans Ge-wissensbegriff weitgehend übersehen wird und man sich statt dessen mit einem psychoanalytisch oder naturwissenschaftlich verbrämten Determinismus, Ge-schmacksfragen oder – die vielleicht typischste Ausdrucksform des postmoder-nen Relativismus, wie ihn beispielsweise der amerikanische Philosoph Richard Rorty vertritt – mit den Vorgaben gesellschaftlicher Mehrheiten zufrieden gibt. In einer scharfsichtigen Kritik an diesem Phänomen hat Joseph Kardinal Ratzin-ger, der jetzige Papst Benedikt XVI., darauf hingewiesen, „daß der Relativismus seinen eigenen Dogmatismus in sich trägt: Er ist sich seiner selbst so gewiß, daß er auch denen auferlegt werden muß, die ihn nicht teilen. Im letzten ist hier der Zynismus unausweichlich [...]: Wenn die Mehrheit – wie etwa im Fall des Pila-tus – immer recht hat, dann muß das Recht mit Füßen getreten werden. Dann zählt im Grunde zuletzt die Macht des Stärkeren, der die Mehrheit für sich ein-zunehmen weiß.“13

Daß trotzdem der Zusammenhang zwischen christlich gebildetem Gewissen und persönlicher Freiheit derzeit kaum gesehen wird, hängt möglicherweise mit dem intellektuellen Zersetzungsprozeß zusammen, der in den zurückliegenden zwei Jahrhunderten die Begriffe des religiösen Subjekts und mithin auch den des Ge-wissens erfaßt hat. Buckley nennt dafür beispielhaft Feuerbach und Freud, die den Gegenstand des religiösen Glaubens zu einer Projektion des Menschlichen auf ein erdachtes Göttliches herabgestuft hätten.14

Diesen Grundfehler kreidete schon Newman den Vertretern der neuen wissen-schaftlichen Richtungen an: die Anwendung rationalistischer Prinzipien in Fra-gen der religiösen Offenbarung, wodurch der eigene begrenzte „Verstand zum Standard und Maßstab der offenbarten Lehren“ erhoben werde.15 Dies sei ein „Mißbrauch der Vernunft“, der die nach Newmans Auffassung bedeutendste natürliche Erkenntnisquelle über Gott – die Stimme, die im Gewissen und im Herzen spricht – bewußt blockiere, so daß die bloße Betrachtung der Welt und der Geschichte einen Menschen, dessen innere Stimme zum Schweigen gebracht sei, leicht „zum Atheisten, Pantheisten oder Polytheisten“ machen könne. Auch die anderen natürlichen Erkenntniswege, auf denen ein Mensch, sofern er dafür offen ist, näher zu Gott kommen kann, scheinen durch den Rationalismus ver-sperrt, der nur gelten läßt, was empirisch verifizierbar und logisch deduzierbar ist. Dabei lehrt schon die menschliche Erfahrung, daß gerade die für das eigene Leben prägendsten Kenntnisse und Beziehungen nicht durch Logik und Empirie zustande kommen.

Newman bringt das auf den Punkt in seiner Zustimmungslehre, einer erkenntnis-theoretischen Arbeit, die übrigens für die Auseinandersetzung mit dem postmo-dernen Denken sicherlich noch vieles leisten kann: „Das Herz wird gemeinhin nicht durch den Verstand erreicht, sondern durch die Einbildungskraft [imagina-tion], aufgrund unmittelbarer Eindrücke, durch das Zeugnis von Tatsachen und Ereignissen, durch Geschichte, durch Beschreibung. Personen beeinflussen uns, Stimmen schmelzen uns, Blicke bezwingen uns, Taten entflammen uns. Manch ein Mensch wird leben und sterben auf ein Dogma hin; kein Mensch will der Martyrer einer Schlußfolgerung sein.“16 Literarisch hat George Bernard Shaw 1924 in seinem nobelpreisgekrönten Drama über die hl. Johanna von Orléans dies prägnant zum Ausdruck gebracht. Als die Titelheldin einem französischen Offizier ihre militärischen Dienste aufdrängt und sich dabei auf Gottes Stimme beruft, spottet dieser, jene Stimme, die sie da angeblich höre, komme doch bloß aus ihrer eigenen Vorstellung (imagination). Die entwaffnende Antwort, die Shaw der Heiligen in den Mund legt: „Selbstverständlich. So erreichen uns Got-tes Botschaften nun mal.“17

Subjektstellung des Menschen

Dieses Grundvertrauen in die Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Geistes erscheint der Postmoderne fremd, wenn nicht gar befremdlich naiv. Schon die Vordenker des Rationalismus trauten dem Menschen, was das Wahrnehmen des Göttlichen betrifft, nicht mehr allzu viel zu. Wo Gott aus der Welt „hinausraffi-niert“ war, da gab es eben nicht mehr viel zu erkennen. Zum Leidwesen der Rationalisten blieb jedoch der von ihnen angestoßene Zersetzungsprozeß in die-sem Stadium nicht stehen. Moderne Philosophen und Naturwissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts hatten, auch wenn sie dem Menschen die Gottfähigkeit absprachen, immerhin noch an der Autonomie des Subjekts festhalten können; der vom Absoluten abgeschnittene, sozusagen von den überkommenen Gottes-vorstellungen befreite Mensch war ja in ihren Augen überhaupt erst der wirklich autonome Mensch. Inzwischen aber hat selbst dies keinen Bestand mehr, jeden-falls wenn man Michel Foucault, einem Vordenker der Postmoderne, glauben will. Dessen „Anti-Subjektivismus“ läßt von der angeblichen Autonomie, auf die sich die Moderne noch so viel zugute hielt, kaum etwas übrig – einfach weil für Foucault schon das Subjekt an sich als Träger irgendwelcher Autonomie nur „Fiktion“ ist.18

Obwohl diese Vorstellung erkennbar Lichtjahre entfernt ist von Newmans Men-schenbild, erblicken Newman-Forscher offenbar gerade hier neue mögliche An-knüpfungspunkte, um die Stimme des Kardinals aus dem 19. Jahrhundert in die Diskussion mit der Postmoderne einzubringen. Bemerkenswert scheint in diesem Zusammenhang der Begriff des „dynamischen Subjekts“19, den der bereits zitier-te Theologe Terrence Merrigan vorschlägt. Auch für Newman sei der Mensch zu Lebzeiten als religiöses Subjekt niemals fertig, sondern befinde sich „in einem Prozeß andauernder Entwicklung (oder Veränderung). Man könnte sogar von einem Prozeß einer unablässigen Neuerschaffung sprechen“. Newman selbst spricht dies unter anderem in seinem bekannten Wort aus, auf Erden „heißt leben sich wandeln, und vollkommen sein heißt sich oft gewandelt haben.“20 Kardinal Ratzinger hat in einem Vortrag über Newman den engen Bezug dieses Satzes zu Newmans eigener Biographie betont: „Newman ist in seinem ganzen Leben ein Sich-Bekehrender gewesen, ein Sich-Wandelnder, und so ist er immer er selbst geblieben und immer mehr er selbst geworden.“21

Doch ein solcher Entwicklungsprozeß – auch das lehrt der Blick auf Newmans Leben – ist kein blindes, zielloses Tappen zwischen den zahllosen Möglichkei-ten, die das dynamische Subjekt hat. Für Kontinuität sorge „der Eine, der unab-lässig das Ich zu einem authentischen Selbst-Sein in der Liebe ruft“, schreibt Merrigan, um dann ganz überraschend eine mögliche Gemeinsamkeit zwischen dieser dynamischen Kontinuität und der postmodernen Skepsis gegenüber dem Subjekt anzudeuten: In sich selbst habe das einzelne Ich auch nach Newmans Auffassung keine Basis, sondern es werde „stets durch ,das Andere’ konstituiert: die anderen [Menschen], für die es jeweils Verantwortung trägt, und den Ande-ren [Gott], vor dem es sich zu verantworten hat. Sein Dasein ist also im wesent-lichen Gabe (oder Gnade) und Aufgabe (oder Ruf): etwas, das sich aktualisiert in jeder authentischen Antwort auf die Stimme des Gewissens. Außerhalb dieser Antwort – das heißt, jedesmal wenn das Gewissen beiseite geschoben oder seine Ansprüche geleugnet werden – verliert das Subjekt seinen Urgrund, zerfällt in Fragmente und wird zur Beute der disparaten Begierden, die aus einer zuneh-mend aggressiven Konsumgesellschaft herrühren oder von dieser geschaffen werden.“ In diesem Sinn sei auch Newmans Subjekt wie das der Postmoderne immer nur „vorläufig“.22

Vor diesem Hintergrund gewinnt Newmans Gebet an den unwandelbaren Gott womöglich ganz neue Aktualität: „Ich erkenne, o mein Gott, daß ich mich än-dern muß, wenn ich Dein Antlitz schauen will. [...] Mein wirkliches Sein, meine Seele, muß durch eine wahre Wiedergeburt umgestaltet werden. [...] O stärke mich in dieser großen, furchtbaren und doch glückbringenden Veränderung mit der Gnade Deiner Unveränderlichkeit! Meine Unveränderlichkeit hienieden ist fortwährendes Sich-Verändern. Gib, daß ich Dir täglich ähnlicher werde und von Herrlichkeit zu Herrlichkeit umgewandelt werde durch den Aufblick zu Dir und die Kraft Deines Armes! [...] Welches Los meiner wartet, ob ich reich bin oder arm, gesund oder krank, Freunde habe oder nicht, alles wird mir zum Übel gerei-chen, wenn der Unveränderliche mich nicht behütet, alles wird mir zum Heile sein, wenn Jesus mit mir ist, Jesus, gestern und heute derselbe und für alle Ewig-keit.“23



Anmerkungen

1) James Joyce, A Portrait of the Artist as a Young Man, London 1977, S. 194f. (Deut-sche Übersetzungen aus Werken, die mit englischem Titel zitiert sind, stammen vom Autor.)

2) John Henry Newman, Apologia pro Vita Sua (Band I der Ausgewählten Werke), Mainz o. J., S. 278f.

3) Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 221991, S. 539.

4) Terrence Merrigan, „‚Myself and my Creator’: Newman and the (Post-)Modern Sub-ject“ (Vortragsmanuskript zur Internationalen Newman-Konferenz, Oxford 2004), S. 1; vgl. dazu auch Robert Barron, „Newman among the Postmoderns“, in: Newman Studies Journal, Bd. 2/1 (Frühjahr 2005). S. 20-31.

5) Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, 16.

6) John Henry Newman, Sermon Notes, London 1913, S. 327.

7) Ders., Polemische Schriften (Band IV der Ausgewählten Werke), Mainz 1959, S. 162.

8) Ders., Sermon Notes, S. 327.

9) Merrigan, a.a.O., S. 14.

10) Newman, Apologia, a.a.O., S. 22.

11) Ders., Entwurf einer Zustimmungslehre (Band VII der Ausgewählten Werke), Mainz 1961, S. 274; für eine Zusammenfassung der Grundlagen von Newmans Gewissenslehre und der wichtigsten Belegstellen aus seinem Schrifttum vgl. Hermann Geißler, Gewissen und Wahrheit bei John Henry Kardinal Newman, Frankfurt/Main 21995, S. 21-27.

12) Michael J. Buckley, „‘The Winter of my Desolation’: Conscience and the Contradictions of Atheism according to John Henry Newman“ (Vortragsmanuskript zur Internationalen Newman-Konferenz, Oxford 2004), S. 25.

13) Joseph Kardinal Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs, Freiburg i. B. 2005, S. 57f.

14) Buckley, a.a.O., S. 10.

15) John Henry Newman, „On the Introduction of Rationalistic Principles into Revealed Religion“ (Tract 73), in: Essays Critical and Historical, Vol. 1, London 1907, S. 31.

16) Ders., Zustimmungslehre, a.a.O., S. 64f.

17) George Bernard Shaw, St. Joan, London 1970, S. 67; vgl. Merrigan, a.a.O., S. 14.

18) Merrigan, a.a.O., S. 7f., 16.

19) Ebd., S. 17.

20) John Henry Newman, Über die Entwicklung der Glaubenslehre (Band VIII der Aus-gewählten Werke), Mainz 1969, S. 41.

21) Joseph Kardinal Ratzinger, „Newman gehört zu den großen Lehrern der Kirche“ (Nachdruck eines Vortrags aus dem Jahr 1990), in: L’Osservatore Romano (Wochenaus-gabe in deutscher Sprache) 22/2005, S. 9.

22) Merrigan, a.a.O., S. 17; vgl. dazu die verschiedentlich als Zeichen der Abkehr von der radikalen Subjektkritik gedeuteten Vorlesungen Foucaults aus dem Jahr 1982 (Michel Foucault, Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt/Main 2004).

23) John Henry Newman, Betrachtungen und Gebete, München 1952, S. 214f; vgl. Mer-rigan, a.a.O, S. 18.

Stephan Georg Schmidt ist Anglist, Skandinavist und Historiker. Er ist Presse-sprecher des Erzbistums Köln und Chefredakteur der Kölner Kirchenzeitung.

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